Unverständnis, geteilt

Ich lese „Sagte sie – 17 Erzählungen über Sex und Macht“, darin eine Erzählung von Annett Gröschner über eine Vergewaltigung in Moskau, im Schnee, von 1988. Mit einer präzisen Beschreibung trifft sie. Ins Mark, den Kern, ich muss das Buch weglegen, um den Satz zu veratmen.

„Seine gestammelten Sätze verstand ich nicht, eine Sprache, die ich nie verstanden habe, die Sprache der Männer, die über Leichen gehen für drei Sekunden Schweben über der Kleinlichkeit der Welt.“

Annett Gröschner, Maria im Schnee

Poetik; für Reibung offen

Was, wenn das

was ich fassen will, sich nicht erzählen lässt, weil es keinen Plot hat. Zum Beispiel die Erhebung, die weiche Welle nach oben, die die erste Geige in Ólafur Arnalds‘ Fyrsta macht und alle anderen tragen das Gleiche nach oben, die Streichinstrumente, das Klavier, und das, was sie heben, geht in Socken auf offenen Handflächen wie eine Räuberleiter in Zeitlupe. Ich will dieses Gefühl, andere, alle in Text rein atmen, Räuber_innenleiter, meine eigene. Es ist Bewegung, aber es hat keinen Plot. So ist es nur für mich nicht langweilig. Warum nicht lieber das Lied hören?

Was, wenn

ich mit dem Fahrrad vor Autofiktion fliehe, aber außer albernen Wortwitzen nichts im Korb habe, auch keine Ausdenkgeschichten. Write what you know. Aber ich bleibe hängen an einem bulgarischen Frauenchor, der in einer US-amerikanischen Late show Oh Susanna singt, in Tracht, polyphon, the whole deal, und ich will nicht, dass das reicht, von dem zu schreiben, was nah ist, nicht nur weil ich weiß, dass es nicht reicht. Aber das, was nah geht, immer.

Was

mache ich mit dem, was ich nicht mehr weiß, aber hatte. Der Loop dreht sich zurück, der Algorithmus lenkt mich in Richtung lettischen Folkgesang, in contemporary Umsetzung. Schwarze Kleider, Bastel- statt Blumenkrone, weiße Turnschuhe, aber auf nichts ist so viel Verlass wie ein Līgo. Mit den offenen Armen die Harmonie halten, sie schwenken. Ein Anfeuern, ein Zustimmen, für Reibung offen.

Un été à la page

Keine Zeit gehabt, etwas ins Notizbuch zu schreiben zwischen einer angefangenen Liste, wer alles eine Postkarte bekommen soll (nicht ausgefüllt, nicht erfüllt) und der Abrechnung anhand von Kassenzetteln, wieviel Geld aus meiner Tasche ging. Dazwischen nämlich: so viele Dinge.

Schritte zum Beispiel. Einen kleinen Teil einer großen Stadt lang gehen, mit drei verschiedenen Metro-Modellen fahren und einer Straßenbahn und einem Regio, aber keinem Bus.

Die kitschigen Dinge wie Eiffelturmselfies, wie an einem Café am Straßenrand sitzen. Ich hätte nie danach gefragt, als Programmpunkt, aber es hat sich ergeben und ich mich meiner albernen Freude.

(H)Aussichten allenthalben, wie weit man sehen kann, an hohen schmalen Eckhäusern vorbei in alle Richtungen, in jeder Richtung ein Fluchtpunkt ins Seh(n)en.

Die kribbelnden Dinge wie die Feuerwehrmannschaft, die plötzlich morgens auf meinem Weg zur Boulangerie vorbeijoggt, in Shorts so tight als hätte sie der Weltverband der Handballer_innen ausgesucht, ein Popo nach dem anderen. Oder wie die Disneyprinzessin, die mit mir flirtet (weil alles ab gezieltem Blickkontakt sich jetzt wie ein Flirt anfühlt) und ich mache einen Knicks, mit roten Wangen unter meiner Maske.

Dann kommt man abends zurück in die Wohnung und hat nur müde Beine, die sich ausruhen müssen für den nächsten Tag, und müde Augen, denen es genauso geht und einen müden Mund vom Durcheinander aus Deutschfranzösischenglisch. Nach nassen Tagen und nach Sonnencremereapplizier-Wetter nur noch in den Wolkenstrahl einer Regendusche steigen und alles in Erinnern schieben, hoffentlich. Die Tage fürs Schreiben zu voll. So viele Dinge.