Balkontanzen

Am Balkon über uns hängt eine Diskokugel. Ich habe sie an eine doppeltverzwirnte Schnur gehängt, aus Tencel selbst gesponnen. Abends verstreut sie fairy lights auf der Hauswand, da bin ich drinnen. Es gibt tagsüber keinen Lichstrahl, der sie trifft, dafür sind wir zu eingehegt in Baum und Häusern und Himmelsrichtungen.

Jeden Nachmittag wirft eine Nachbarin ihren kleinen Lautsprecher an und wir tanzen auf benachbarten Balkonen, sie ist ein Rockstar auf ihrem eigenen Balkon. Manchmal schalte ich die Seifenblasenmaschine an. Wir kommunizieren im Zickzack mit Blicken die Stockwerke hoch und runter, tanzen zu viert oder zu fünft eine kurze gute Playlist runter, dann sagen alle tschüss und gehen wieder in ihre Wohnung. Dance like your new neighbours in your old apartment are pretending not to be watching.

Auf der anderen Seite des Hauses: der Panoramablick auf den Sonnenuntergang, ich muss den Vorhang zuziehen, wenn ich Hausaufgaben machen will. Nachts ziehe ich ihn auf, damit ich mich in der Reflektion des Fensters sehe, ein bisschen wie Carrie Bradshaw. I couldn’t help but wonder: Wer geht eigentlich noch in die Disko, abgesehen von Kindern im Schullandheim? Ich gehe nicht mal in den Club, sitze mit mit Kopfhörern im Ohr am Schreibtisch, sie fallen raus, wenn ich lächle. Vielleicht kann man mich vom Park aus sehen; dance like only ducks are watching.

Am Anfang habe ich mich nicht getraut, mitzutanzen. Am Badfenster gelauscht und mitgenickt, auf dem Wohnzimmerteppich rumgelegen, mir allerlei ausgedacht, warum das nicht geht. Zu deutsch für sowas, oder nicht deutsch genug. Zu verkrampft, oder verkopft. Zu kritisch distanziert für Gruppenaktivitäten, ich klatsche auch nicht mit, wenn alle klatschen, egal ob auf die 1 oder auf die 2. Dann einmal mit mit Kind getraut, und es ging, seitdem geht es, und ich denke an alles, was Brené Brown zu Vulnerabilitität und Connection sagt.

Im Balkonspiegel, auf dem unvollständigen Quadratmeter an der Brüstung Richtung Innenhof tanze ich wie Scarlett Johansson in Marriage Story. Mit mir selbst, jetzt hier, tanze ich wie Andrea, mit zusammengekniffenem Mund und harten Armen. Dance like your dead mother is watching.

feeling myself

Eigentlich habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt, um Hausaufgaben für die Uni zu machen, eine Seite für Bourdieu und die noch offene Frage, wie anekdotisch ich darin werden soll, ein Unbehagen zu eigenen Erfahrungen mit Habitus und kulturellem Kapital auszudrücken, für das Bourdieu a remedy sein könnte, oder lieber so tun, als schreibe ich einen wissenschaftlichen Text, wie alle anderen, die so sichtbar einen anderen Habitus imitieren. Am Ende ist es egal, hauptsache eingereicht.

Stattdessen habe ich mich hier festgelesen, drei Jahre durchs Archiv. Es ist ein Regennebel auf den Unterarmen. Ich will nicht von allen gelesen werden, das ist das eine. Das andere ist: ich lese mich selbst so gerne. „Werde, die du bist“ sagt Hedwig Dohm, es steht im Regal als Titel auf einer Anthologie mit Texten deutschsprachiger Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, lavendelfarbener Buchumschlag. Ich browse (brause?) durch meine Textschnippsel, fast eine Dekade alt, und denke: bin ich schon. Wie schön ist das. Und anderes. Wie viel Schreiben im Alleinsein lag, in Unsicherheit und Wundern. „Should I choose the smoothest course?“ fragt Disney’s Pocahontas und ich fühle mich ertappt – ich bin nicht mehr allein, ich bin abgesichert, of sorts. Aber darin ist eben wenig Text.

Was anders war: ich fühle mich so da durch (alles noch da, all the feels) und denke, ja, wieder alleine irgendwo hingehen, wo gelesen, getanzt wird, dort schreiben und dann fällt mir ein, geht ja gar nicht, Corona. Ich lese mich durch einen missverstandenen Flirt, in dem ein Verlagsmitarbeiter mir ein Kompliment zu meinen Grübchen macht und bin berührt, es liest sich lieb, wie ich es geschrieben habe. Aber auch in die Welt lächeln geht nicht gut, mit Maske.  Also lächle ich in den Text; den der ist, den der wird.

 

 

9.1.

Immer fast mit der neuen Wohnung fertig. Es fehlt eigentlich nur ein Stückchen Wand im Flur, seit Tagen, denke ich, und dann wird zwischendurch ja auch noch tapeziert und das Schlafzimmer gestrichen, und das Wohnzimmer soll ja eigentlich auch noch mal, aber dann, bestimmt. Das Stückchen Wand streiche ich mit Magnetfarbe und Tafelfarbe, und es ist vor allem ein Prozess. Erst viele Schichten auftragen, dann viele Schichten mit Sandpapier runterschleifen, bis die Wand uneben aber weich ist. Und heute Nacht der Lack, der noch nicht deckt. Zwischendurch liege ich in der trockenen Badewanne Probe, stehe rum und denke nach.

Ich habe gesagt, dass ich in dieser Wohnung 30 Jahre bleiben will. Weil ich gut 30 Jahre in der alten Wohnung war. Ich will so lange bleiben, dass ich nicht ausziehen muss und nicht mit Maschinen und Mundschutz die Metallfarbe von der Wand schleifen muss, weil ich nicht darunter tapezieren wollte. Ich will so lange bleiben, aus Prinzip, und weil Umziehen unangenehm ist und es ist ja auch eine gute Wohnung. Und dann habe ich gerechnet. In 30 Jahren bin ich 62. Ich kann mir mich nicht mit 62 vorstellen. Ich kann mir die Welt nicht 2050 vorstellen. Ich kann nicht so weit springen.

Stattdessen sitze ich auf dem geschlossenen Deckel des Gästeklos und versuche mit vorzustellen, wie viel in 30 Jahren steckt. Wie alt meine Kinder sein werden, vielleicht Enkel. Ich finde das nicht romantisch. Es gruselt mich. Wer nicht mehr leben wird, vielleicht oder definitiv und wenn ich nicht darunter bin, dass ich da dann durch muss. Das Leben und das Sterben, das in den letzten 30 Jahren Wohnung steckt. Wie seltsam das ist, und unheimlich. Und ich muss an Freuds Essay über das Unheimliche denken, und wie das mit dem Heim und dem Heimlichen zusammenhängt, aber es ist auch schon wieder 12 Jahre her, dass ich den gelesen habe und so genau weiß ich es auch nicht mehr,

4.1.

„Ich hab Halsweh vom Schreien“, sage ich.

„Das kenn ich“, sagt das große Kind.

„Ja, woher denn?“

„Na, wenn ich schreie, weil ich sauer bin, dann hab ich auch Halsweh “ sagt das große Kind und ich denke, ja, genau.

3.1.

Im Liegen schreiben. Mehr Vorsatz als Durchführung, eine Idee, die nicht weniger quatschig wird, je öfter ich ihr nachhänge. Im Liegen schreiben wie: ich nehm die Hausaufgaben einfach mit ins Bett und mach da weiter. As if, darling, as if.

Zu müde und kalt gewesen, um darauf zu warten, dass ein Computerspiel aktualisiert, das ich wegen Hausaufgaben und Hausarbeiten nie gespielt habe und natürlich habe ich auch jetzt keine Zeit, aber ich rede mir ein, dass es nützlich ist: Ich will mit dem Grundriss, den ich für die Wohnung skizziert habe, ein Haus bei den Sims bauen, das einrichten, streichen, tapezieren, mit weniger Mühe als in echt, nur, um mal zu gucken und dann alles wieder neu und anders. Aber es lädt, wie gesagt, und ich muss ins Liegen, schreibend oder nicht.

(Mit den Vorsätzen ähnlich laissez-faire wie mit den Hausaufgaben, so lange ich liege geht das klar.)

beyond

Ich bin nicht sicher, ob die Dekade bei 0 oder 1 beginnt. Ich weiß noch nicht, was ich mit ihr will. Im Kalender sind Jahresbeginne so klar markiert, und im Alltag ist Neujahr auch nur ein Tag nach einem anderen vor einem anderen. Ich habe fünf Kalender, drei zum Aufhängen, zwei für die Tasche. In keinem steht schon etwas drin. Einer hängt, in der neuen Wonung, wo ich nur zum Streichen bin, an einer Tür, die noch ausgetauscht werden muss. Einer liegt daneben, ich muss die Wand streichen, ehe ich ihn aufhöngen kann. In der alten Wohnung ist es wie im alten Jahr, ich habe noch nicht umgeblättert, der Tag zieht trotzdem vorbei.

Ich hänge an Neuanfängen, aber hänge mich nicht so tief rein in Anfang und Selbstoptimierung dieses Jahr. Statt mit Mühe und einem Neujahrsschwung Produktivität anschubsen zu wollen, ist mein Vorsatz für den Januar einen Termin auszumachen, um rauszufinden, ob an meiner Verzettelung mehr dran ist, ob ich anders angeschubst werden kann. Heute im Wellenbad gewesen und es ist auch so: man bekommt weniger Wasser in die Nase, wenn man mit den Wellen geht, statt sich ihnen beweisen zu wollen. Trotzdem Pläne, Verschönerungen:

 

für diesen Januar, täglich –

• wieder Yoga with Adriene, heuer unter dem Motto „Home“ und es spricht mich so an, aus Gründen

• jeden Tag hier schreiben

• in den Kalender zeichnen, alle Kalender vollmachen, ich hänge hinterher, aber es macht nichts

• jede Woche ein Buch lesen

• Stück für Stück umziehen, mit allem, Abschiednehmen, von allem

• mehr teilen, offen

 

Und fürs Jahr, vage –

• Instrumentalunterricht für das große Kind, mit dem großen Kind. Ein Cello leihen, vielleicht, in meiner und seiner Größe

• mit dem Schiff nach New York, dafür weiter sparen (mir etwas ausdenken, wie ich zwei Wochen ohne Internet verbringe)

• Seminare abschließen, Hausarbeiten schreiben, mit Mut

• ein Kind einschulen und klarkommen

• ein Bachelorarbeitsthema finden

• Gedichte schreiben, nicht nur für Credit Points (aber die ein gefälliger Anlass)

• Freundinnen treffen in Wien, Berlin, Hamburg, Paris

• ein Tattoo, endlich

• Absagen sammeln, vielleicht eine Zusage darunter auflesen, jedenfalls immer raus mit dem Content und den guten Absichten, immer raus damit, immer raus

– ins Jahr.

before

Ich bin nicht sicher, ob die Dekade bei 9 oder (1)0 endet. Was sie umschließt ist Unibeginn und Uninochnichtabschluss, ist immer noch im Bachelor zu hängen aber keine Junggesellin mehr zu sein. Nicht, was ich plante, nicht, was ich ahnte.

Die Kinder wühlen unter den Sofakissen nach Münzen, 68 Cent kommen dabei zusammen, und Bleistifte, Krümel und Schnipsel von einem Adventskalender von vorvorletztem Jahr. Sie werfen die Sofakissen auf einen Haufen und sich da rein.

Ich bin zufrieden mit dem Jahr. Besser zu lesen als: ich bin zufrieden mit mir in dem Jahr. Es ist eine gute Mischung aus viel schaffen und aus verstehen, was ich alles nicht schaffen muss. Vier Monate habe ich sehr zuverlässig Vorsätze abgearbeitet, dann begann ein neues Semester und ich habe stattdessen sehr zuverlässig Seminare abgearbeitet. Und abgeschlossen. Sehr gut abgeschlossen.

Die Kinder wollen duschen, mit mir, wir machen das und es ist witzig, ich staune wie sie rutschen fallen lachen. Sich mit Bechern Wasser über den Kopf schütten, weiter duschen, als ich mich schon abtrockne. Ein Rest freiheitstatuenfarbener Anstrich hängt mir noch an den Nagelhäuten. Gestern habe ich mit Gewalt eine Wand angemalt. Um Farbe zu sparen die Rolle so hart abgestrichen, dass ich jetzt meinen rechten Arm nicht mehr ohne Schmerzen bewegen kann. (Die Muskelkater, mit denen man nicht rechnet.)

Wir haben die Zusage für eine Wohnung bekommen. Nachdem drei Vorbewerber_innen sie abgelehnt hatten. Die Wohnung in unserem Häuserdreieck, von der ich dachte, diese oder keine. Die gleiche gute Höhe, ein großer Balkon mit Wandseiten, eine Küche, in der Platz für einen kleinen Essplatz ist. Und zur anderen Seite der Blick auf Park, auf Weiher und Skyline. Sie wurde frei, wir haben es spät gemerkt und hatten so großes Glück. Wir haben großes Glück, denn alle Nachbar_innen in dem Haus, die davon wissen, sagen, dass sie sich freuen, dass wir dort einziehen. Jetzt streiche ich Stück für Stück die Wände, und fülle Stück für Stück Kartons, wenn die Kinder schlafen.

Ich nehme also nicht nur vom Jahr Abschied, auch von der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin. In die ich immer wieder gekommen bin, in der ich sonst auch geblieben wäre. Die Wohnung, in der mein kleinstes Kind geboren wurde, das sich jetzt mit Verve über den nassen Badewannenboden wirft und bei Böllern „habe Anst“ sagt. Zu Beginn des Jahrzehnts bin ich hier schon mal ausgezogen. Für ein nie beendetes Studium. Jetzt werde ich nicht mehr zurückkommen. Aber vom Küchenfenster aus immer rübergucken können.

Die Kinder schlafen, sammeln Wachzeit für den Jahreswechsel. Ich bleibe lieber wach und lehne mich in ihren Atem.

 

2.6.

Und dann ist es Juni. Vielleicht haben wir Halbzeit. Ich weiß die Hälfte der Zeit nicht, was ich tue, aber das ist okay, solange ich mich von Seminar zu Seminar hangle. Viele Feiertage in letzter Zeit, aber so lange sie auf meinen eigentlich freien Donnerstag fallen, sind sie nur mehr Carearbeit; lange Sonnentage voll, aber keine Zeit, am Schreibtisch zu arbeiten. Ein Computerspiel heruntergeladen, aber keine Gelegenheit, es zu spielen, weil sich ein schlechtes Gewissen dazwischen schiebt, und stattdessen scrolle ich sinnlos in der Gegend herum, immer wieder von mir selbst abgelenkt.

Nächste Woche habe ich Geburtstag und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Eine grobe Idee von einem Picknick im Grünen, aber dann muss man die Zufriedenheit von eingeladenen Leuten managen und das ist mehr Arbeit. Oder in einen Freizeitpark gehen, Kettenkarusell fahren, aber da manage ich doch auch mehr die Happiness meiner Kinder. Abends ins Kino wäre schön, aber es ist ein Programm für Monate in denen niemand Lust auf Indooraktivitäten hat, ich möchte das alles nicht so gerne sehen. Also abwarten und überstürzen. Hätte ich ein Ziel, ich würde wegfahren, alleine – eine Fantasie.

18.5.

Eine Blase Zeit haben so groß wie die Hosentasche eines Kleides. Der Platz zwischen Pocket und Bag.

Es ist die alte Rutsche in Vergeblichkeiten hinein, während ich noch überlege, was ich machen kann mit den anderthalb Stunden vor Mitternacht, ohne Deadline, ohne dringende Aufgabe, die zuerst zu tun wäre (nicht, dass nichts zu tun wäre), und dann sind die Augenlider eine halbe Stunde schwerer und das war das. Ich könnte fernsehen und stricken, mit der Nähmaschine Zentimeter machen, oder doch Textarbeit? Oder über Arbeit nachdenken:

Heute habe ich Unkraut gepflückt, ein ganzes Beet lang. Tomaten und Mais in die Erde gesetzt. Gegossen. Es ist unspektakulär, aber es war nett. Und irgendwie albern, mit diesem Garten, wie der Vater der Kinder mit den Kindern in den Kleingarten seiner Eltern geht, damit die Kinder da spielen können, während ich alleine in einem anderen Kleingarten arbeite.

Arbeit genug, dass ich meinen Körper jetzt über eine Stuhllehne legen könnte wie so labbermehlige Tagliattelle aus der Nudelmaschine. Ein bisschen unbequem, aber ich will mich nicht beschweren.

17.5.

Sich selbst Fallen bauen, wie –

nach acht Cola trinken. Hausaufgaben machen bis um drei Uhr. Den Kalender erst lesen, als der Termin, den man nachsehen will, schon rum ist. Bis in den morgen Sachen für die Uni vorbereiten, um was zeigen zu können, und am Morgen die Uni verschlafen. Es ist –

eine Sache loslassen und andere fallen hinterher, werfen sich in den Wind wie labbrige Handschläge, rollen so den Hügel runter. Wenn ich nicht alles genau festhalte. Wenn ich eine Lücke schaffe für mich, wie sie sich ausbreitet, mehr als ich mag.

Ich halte nicht alles fest, aber ich halte mich hieran fest. Wasauchimmer es wird.